Rio de Janeiro- von der Copacabana in die Favela

Als ich etwa in der siebten Klasse war, hatten eine Freundin aus meiner Klasse und ich den Traum, nach der Schule nach Rio de Janeiro zu reisen. Ich weiß nicht mehr, wann und wie wir darauf gekommen sind. Was ich allerdings noch weiß ist, dass wir uns zu monatlichen sektenähnlichen Ritualen trafen, in denen wir uns schworen, diesen Traum zu verwirklichen und alles sammelten, was irgendwie mit Rio zu tun hatte.

Eines Tages hatten wir die Idee gehabt, dorthin zu trampen. Unsere Begeisterung hielt etwa vier Stunden, bis irgendwem auffiel, dass uns auf unserer Trampstrecke ein kleiner aber feiner Ozean von unserem Ziel trennte. Dieser Plan wurde also als unmöglich abgetan und auch die ganze Geschichte mit Rio wanderte mit der Zeit in den Keller vergessener Kindheitsträume. Dort wäre er sicher auch geblieben. Ich hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Doch dann lief ich eines schönen Tages während meiner Nach-Abi-Reisezeit durch Rio de Janeiro, weil ich nach Brasilien getrampt war – über das große Wasser- (obwohl ich eigentlich ganz woanders hatte landen wollen) und die Erinnerung traf mich auf einmal wie ein Schlag. Ich hatte genau das getan.

Ein paar Stunden bevor ich mich auf den Weg nach Rio machte, hatte ich immer noch keine endgültige Zusage auf Couchsurfing von jemandem in Rio, der mich aufnehmen würde. Aber dann schrieb mir Lea. Lea lebte eigentlich in Budapest, war vor ein paar Jahren nach dem Studium elf Monate durch Südamerika getrampt und hatte sich dabei in die Stadt am Zuckerhut verliebt. Nun war sie wieder mal zurückgekehrt und hatte sich diesmal für ein halbes Jahr eine Wohnung gemietet. Als Journalistin und Fotografin konnte sie schließlich auch von woanders arbeiten. Die Wohnung lag fußläufig zum Zentrum, zum Künstler*innen- und zum Party- Viertel auf einem Hügel neben einer Favela. Für die soziale Ungleichheit ist die Stadt ja bekannt und ich lief tatsächlich an Villen vorbei und um die Ecke und sah Favelas.

Ich blieb über das erste Wochenende bei ihr, sah mir oben erwähnte Stadtteile an, den nahegelegenen Strand (an dem man allerdings nicht schwimmen konnte) und sah den schönsten Wochenmarkt, den ich je gesehen hatte (eine schier endlose Reihe an Ständen mit frischem und sehr günstigem Obst und Gemüse, aber auch anderem Essen, Getränken und Livemusik). Die Favela nebenan war ruhig und ich lief jeden Tag hindurch, ohne irgendwie von irgendwem behelligt zu werden. Und wenn ich zum Beispiel von irgendwelchen Typen angequatscht wurde, ignorierte ich sie und ging schnell weiter. Sie ließen mich in Ruhe und es fiel nicht auf, dass ich nicht von dort war. Es ist halt wahrscheinlich auch anders, wenn ein schwarzes Mädchen in den gleichen Flipflops und mit der Einkaufstüte vorbeiläuft, als wenn irgendwelche blonden Touris mit Sonnenbrand ihre Supreme-Mode- Kollektion spazieren tragen. Aber auch Lea, die blond und auch nicht flüssig in der Sprache war, sagte, sie fühle sich immer ziemlich sicher dort.

Mit Lea zu wohnen war wirklich sehr angenehm. Sie war mega offen und wir verstanden uns gut, was allerdings auch daran liegen konnte, dass unsere Vorstellungen vom Reisen, von der nötigen Ordnung in der Wohnung und die Fülle in unserem Portemonnaie- bzw. Die Abwesenheit letzterer beiden Dinge, sich doch sehr ähnelten. Wenn ich also Fotos verkauft hatte und ihr Konto gerade leer war, lieh ich ihr etwas Geld zum Einkaufen, bis sie bei einem Fotoshooting in Cash bezahlt worden war und wir den Kühlschrank wieder auffüllten. Von ihren Erfahrungen beim Trampen auf diesem für mich unbekannten Kontinent zu hören (sie natürlich auch alleine und als Frau), war eigentlich alles, was ich für meine weitere Planung gebraucht hatte. Die Erlaubnis, um es ebenfalls anzugehen.

Nach ein paar Tagen zog ich allerdings erstmal zu einem anderen Couchsurfer, der mir angeboten hatte, mich aufzunehmen. Er wohnte in Copacabana und wie sich herausstellte, nicht nur in der Straße direkt an dem berühmten Copacabana Strand, sondern auch in einer großen Wohnung, in der ich ein eigenes Zimmer bekam. Mein Gastgeber arbeitete unter der Woche den ganzen Tag. Ich bekam ihn also lediglich manchmal abends zu Gesicht. In der Wohnung wohnte aber noch die Haushaltshilfe (wenn auch \“Hilfe\“ leicht untertrieben war. Als ich meinen Gastgeber fragte, wusste er erstmal auf Anhieb nicht mal, wo in der Küche das Salz war. Wahrscheinlich aß er aber auch meistens auswärts). Außerdem wohnten noch zwei junge Frauen dort, die er mit der Zeit aufgegabelt hatte. Die eine über tinder, die andere als sie am Strand Sachen verkauft hatte. Sie mussten nicht einmal die Lebensmittel selbst bezahlen, aber ich vermutete, so vernarrt, wie er außerdem in sie war, dass sie auch mit ihm schliefen. Ich blieb eine Woche lang und in dieser Zeit wurde ich zwei Mal gebeten, falls ich nicht mit machen wollte, wegzusehen und dem Wohnzimmer fernzubleiben, da ein paar Freunde kämen, um ein wenig „Spaß für Erwachsene zu haben“.

Das Wohnzimmer bestand eigentlich aus drei Wohnzimmern, die perfekt gewesen wären, um Empfänge zu geben und nicht nur das und die Tatsache, dass er sich überhaupt eine große Wohnung direkt an der Copacabana, sowie das durchfüttern von drei weiteren Personen (sowie wahrscheinlich noch seinen jungen Söhnen, die in Italien lebten) leisten konnte, warfen natürlich so leicht die Frage auf, womit er denn sein Geld verdiente. Er hatte mir auch erzählt, dass er schon in jedem Land der Welt gewesen war und durch seinen Beruf in unglaublich vielen schon gelebt hatte (zuletzt auch fünf Jahre in der D.R. Kongo). Außerdem dass er durch Couchsurfing gerne mal andere Leute traf, als aus dem Beruf. Was er aber nicht erzählte war, was dieser Beruf war. Als ich ihn schon beim ersten Smalltalk gefragt hatte, war er der Frage ausgewichen. So auch beim nächsten Mal und als ich seine Haushaltshilfe fragte, sagte sie, er habe ihr verboten, diese Frage anderen (z.B. Couchsurfer*innen) zu beantworten. Das machte es nun natürlich gar nicht interessanter, aber ich ließ den potentiellen Gangsterboss erstmal seine Orgien feiern und behielt ihn unauffällig im Auge.

Während ich also in dieser Wohnung unbekannter Finanzierung wohnte, verbrachte ich recht entspannte Tage. Ich lief ein bisschen durch die Umgebung, ging an den Strand, reihte mich auch ab und zu in die Kolonne von Strandverkäufer*innen ein und verkaufte meine Polaroidfotos. Ich ging feiern in Lapa, dem Partyviertel oder an einem berühmten Samba- Ort (wer’s nicht kennt: Manche Sambas finden einfach auf der Straße statt. Die Band sitzend auf Stühlen in der Mitte und die Menschen drumherum).

Am Strand verkaufte ich zwei Mal Fotos an ein Pärchen aus São Paulo.Ich fand die Jungs so süß und sie mich, dass sie mich gleich adoptieren wollten.

Und letztendlich fand ich sogar mit ein bisschen Undercover- Recherche auch heraus, womit mein 007- Gastgeber seine Kaviar- Brötchen verdiente (sorry Leute, ist nichts Illegales, aber leider in allen Vereinten Nationen „top Secret“).

Er hatte mir angeboten, noch länger zu bleiben, so lange wie ich wollte (nein, keine Sorge, sagen wir, ich musste mein Essen immer noch selbst bezahlen). Aber ich hatte genug und zog lieber weiter zu einem Couchsurfer, der in einer Favela im Osten der Stadt lebte.

Henrique wohnte in Maré, einer der größten Ansammlung an Favelas im Nordwesten Rios. Henrique selbst war nicht in der Favela aufgewachsen, allerdings in der Nähe und hatte in der Uni um die Ecke studiert, bevor er als Bio- Lehrer in die Favela gezogen war, in der nun seit einigen Jahren lebte. Ich fühlte mich direkt deutlich wohler mit ihm in seiner kleinen -Anderthalb- Zimmerwohnung, als alleine in der großen sterilen Wohnung zuvor.

Er habe kein WLAN, aber wenn ich Internet bräuchte, könne ich einfach sein Handy nehmen (er ließ es mir sogar da, wenn er arbeiten ging) oder seinen Account in dem Internet-Café seiner Freunde um die Ecke benutzen. „Und das ist meine Waschmaschine.“, sagte er entschuldigend, als er mir die großen Waschbecken zeigte, die es in seinem Haus auf jeder Etage gab. Ich war aber schon im Voraus auf beides eingestellt gewesen.

Ich war die 85. Couchsurferin, die Henrique aufnahm. Da er sich seit Jahren Deutsch und Russisch beibrachte, nahm er vorzugsweise Leute auf, mit denen er diese Sprachen üben konnte. Anscheinend war sein Russisch besser als sein Deutsch und er war auch schon des Öfteren in Russland gewesen (er meinte, es sei billiger für ihn), aber allein sein Deutsch war schon ziemlich gut und nach zehn Jahren des Deutschlernens würde er sich dieses Jahr den Traum erfüllen, für ein paar Tage nach Deutschland zu reisen.

„Das ist gar keine Favela. Favelas gibt es in Ecuador und Peru oder Indien. Viele hier haben Fernsehen und Internet oder ein Motorrad.“, sagte Henrique, als er mit mir durch die Straßen lief und wir den unzähligen Motorrädern auswichen. „Motorrad, aber kein einziges Buch zu Hause.“ (-Typisch Lehrer) Henrique hatte kein Motorrad, aber dafür Bücher. Sie füllten die Regale seiner kleinen Wohnung und stapelten sich auf dem Boden weiter. An den Wänden russische Landkarten und Souvenirs, gerahmte Fotos von musizierenden Couchsurfer*innen, am Kühlschrank Magneten ihrer Heimatstädte.

Neben dem Kühlschrank seine Instrumente. Gitarre, Balalaika, ein weiteres russisches und ein südamerikanisches Saiteninstrument, ein Glockenspiel, eine Flöte aus den Anden… und er konnte sie alle spielen. Mit allen seiner Gäste nahm er außerdem immer ein Lied zur Erinnerung auf. Ich musste bei meinem gigantischen musikalischen Grundwissen einsehen, dass ich am Glockenspiel wohl am wenigsten falsch machen konnte. Allerdings geriet dieses Wissen dann doch an seine Grenzen. Hier unsere erste Single:

Am zweiten Tag ging ich während Henrique arbeiten war vor die Tür, um einzukaufen. Allerdings kam ich tatsächlich nicht weiter als „vor die Tür“, denn ich wurde von einem Müllmann aufgehalten, der auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig saß. Wir kamen ins Gespräch und bald waren wir in ein Gespräch über seine feministischen Ansichten verwickelt und endeten in einem kleinen Jam.

„Hier gibt es kaum schwarze Leute.“, sagte Henrique, als wir die nahegelegene Uni betraten. Während er etwas recherchieren und kopieren musste, stand ich also auf dem Gang und führte die unrepresentativste Statistik aller Zeiten durch. In diesen vielleicht 15 Minuten zählte ich 183 Leute. Etwa 30 davon mit dunkler oder deutlich gemischter Hautfarbe. (Relation: Laut einer Studie des brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik von 2016 bezeichnen sich etwa 45% der Bevölkerung als „mixed“ und knapp 9% als „schwarz“.)

„Schwarze Leute sind in der Favela.“, war Henriques Antwort, als ich ihm meine professionell ausgewerteten Ergebnisse präsentierte. Dementsprechend anders sah mein kleines Spielchen in der Favela aus.

Henrique war aber der Meinung, die Leute dort könnten theoretisch zur Uni gehen. „Sie haben Computer und Klimaanlage zum Lernen… aber denken nur an Party.“ Eltern waren meistens natürlich auch keine Hilfe. „Manche meiner Schüler haben beide Eltern im Gefängnis.“, sagte Henrique. Das war dann meistens dem Drogenverkauf geschuldet, der in den reicheren Viertelen wie Copacabana oder Leblon betrieben wurde. Die Droge der Favela bliebe aber immer noch der Alkohol. Henrique selbst wollte keine Kinder. „Nicht in Brasilien.“

Die Polizei war unmittelbar neben der Favela stationiert. Schon vorher war mir von vielen Leuten erzählt worden, dass dieser Freund und Beschützer in diesem Land nicht zwingend zu „den Guten“ gehörte und wie verwoben er mit den kriminellen Szenen sein konnte. In unserer Favela hatte sie sich nun die letzten Wochen lang nicht blicken lassen. Kleine finanzielle Aufmerksamkeiten, die von der Favela ihren Weg in die Polizeistation fanden, waren daran wahrscheinlich nicht unbeteiligt. So wie es Henrique schilderte, wurde das Geld von dem Boss in der Favela einem kleinen Kind übergeben, das dann als Bote fungierte. Ob die Leute wüssten, wer der Boss sei? „Ich weiß es. Aber ich weiß nichts. -Ist besser so.“ Wenn die Polizei sich dann doch innerhalb der Favela blicken ließ, etwa um jemanden zu verhaften, konnte es hin und wieder zu Schießereien kommen. Gerade an dem Abend nachdem wir darüber gesprochen hatten, gab es einen größeren Polizei- Einsatz. Henriques Abendunterricht fiel aus und er bat mich, nicht tiefer in das Innere des Stadtteils hineinzugehen.

Auch Henrique hatte gesagt ich könne „bis Dezember“ bleiben wenn ich wolle. Aber meine visumfreie Zeit in Brasilien lief Ende Mai aus und ich musste vorher irgendwie an eine Landesgrenze trampen. Also verabschiedete ich mich von Henrique und seinen Freunden und machte ich mich auf den Weg auf die Autobahnen Richtung Süden. Immer noch mit Henriques Worten im Ohr.

„Die Favela ist eine Scheiße.“

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