Auf dem Weg nach São Paulo hatte ich meinen Bus so umgebucht, dass ich noch eine Nacht in Brasilia war. Ich meine, eine südamerikanische Plan- Hauptstadt aus den 60ern… -Da konnte mein geografisches Herz nicht einfach durchfahren. Und ich habe mich tatsächlich gefühlt, als würde ich durch mein Erdkunde-Buch laufen. 60er, 70er: Alles ausgelegt aufs Auto. Wohnen, arbeiten, einkaufen… -komplett getrennt von einander. Regierungs- und Bürozeug im Zentrum, sowie außerdem ein eigener Sektor für die Hotels. Kirchen natürlich auch komplett neu designed. Ich habe leider nicht die ganze Stadt sehen können. Die Stadt wurde in Form eines Flugzeugs entworfen (frag mich nicht warum, vielleicht wollte man sich wappnen für den Himmel auf Erden). Die Flügel bilden dabei die Wohnsektoren, welche komplett in Blocks unterteilt sind. Eine Adresse sieht dann z.B. so aus: SCN Q5, Setor Comercial Norte Q 5 BL A – Asa Norte, Brasília – DF, 70715-900, Brasilien. Wirkte auf mich ein bisschen wie eine Dystopie für die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts aus Sicht der ersten (so wie in 1984).
Naja, ich würde meine Stadt definitiv komplett anders bauen.

Und dann: São Paulo…
Die größte Metropole Südamerikas. 12 Millionen Menschen im Stadtgebiet, insgesamt 21 in der Metropolregion. Die zweitgrößte Stadt auf den amerikanischen Kontinenten, sowie auf der Südhalbkugel. Im Südosten Brasiliens gelegen und „wichtigste[s] Wirtschafts-, Finanz- und Kulturzentrum des Landes sowie ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt.“ (Wikipedia) Deshalb wird die Stadt auch gerne als New York Südamerikas gehandelt. Es herrscht ein großes Angebot internationaler Küche und der gleichnamige Bundesstaat ist außerdem zu Hause der größten japanischen Community außerhalb Japans.
Schon vom Bus aus konnte ich beobachten, wie immer mehr Hochhäuser aus dem Boden schossen. Noch im Busbahnhof ging ich in die Touri-Info. Eigentlich nur, um mir die Adresse des Hostels raussuchen zu lassen, aber ich verließ das Büro erst etwa eine halbe Stunde später mit einem halben Kilo Prospekten und Karten im Arm und tausend Ideen im Kopf, was ich kulturell alles würde unternehmen können (die Jungs in dem Büro waren so glücklich gewesen, dass ihnen endlich mal jemand geduldig zuhörte, dass ich sie einfach nicht hatte stoppen können). Rein in die Metro. Bahnmusik (wie nennet man Straßenmusik, die nicht auf der Straße ist?). Raus aus der Metro. City. Nach den letzten Wochen auf dem Ozean, gerade aus dem Nationalpark kommend und nur mit Salvador und Brasilia als Vergleich fühlte ich mich, als wäre ich noch nie in einer Großstadt gewesen. Wolkenkratzer, Autos, Fahrradwege, Menschen, Straßenkünstler*innen… Meine Augen waren erstmal überfordert.

Abends lief ich dann wieder über die Avenida Paulista zur Rua Augusta, der wahrscheinlich bekanntesten Bar- und Homo-Straße der Stadt.
Und vorbei an so vielen stylischen Leuten und Läden, wie ich schon lange nicht mehr gewohnt war.
Ich hatte eine Stelle als Freiwillige in einem Hostel gefunden, in den ersten zwei Tagen musste ich aber noch nicht arbeiten und ich nutzte die Zeit, um schonmal an Punkt 2, 3 und 4 meiner Liste heranzugehen. Konkret hieß das, die coolsten Plätze besuchen, an denen junge Leute abends abhingen und Kontakte knüpfen, die Stadt anschauen und die Stadtführungsmöglichkeitem auschecken. Bei einer dreistündigen Stadtführung durch die Innenstadt und den historischen Teil (mit unglaublich viel Information und einem räumlich uneingeschränkten großen Gebiet, das wir abliefen) wurde mir bewusst, dass es hier für mich schwierig bis unmöglich werden würde als Stadtführerin anzufangen. Und diese Stadt war deutlich professioneller mit einer Ausbildung offiziell über ein Jahr und genug Angebot auf allen möglichen Sprachen, als Salvador, wo ich den einen Monat Ausbildung einfach mal glatt übersprungen hätte. Diese Arbeitsoption verschob ich also auf später. Denn dann musste ich erstmal mit dem Hostel fertig werden.
In meinem Hostel gab es fünf Räume mit 32 Betten plus das Zimmer der Freiwilligen . Derer waren wir sieben. Drei aus Brasilien, drei aus Argentinien (später einer aus Kuba) und nun ich. Arbeiten je 4 Tage die Woche, 8 Stunden (2 Stunden putzen/ Betten machen, 6 Stunden Rezeption). Dafür Bett und Frühstück.
Vor meiner ersten Schicht hatte ich von einer der Freiwilligen eine schnelle Einführung bekommen und ich hatte eigentlich sowieso nie wirklich viele Leute an der Rezeption gesehen. Soweit so gut. Der Tag kam und mit ihm die Hölle Erden. Auf ein Mal wollten alle Gäste gleichzeitig irgendetwas von mir, neue wollten einchecken, ich verstand sie natürlich kaum, niemand sprach Englisch, ich kam überhaupt nicht mit dem Computersystem klar, fand nichts, wonach ich suchte, realisierte, dass ich noch nicht mal ein Kreditkartenlese-Gerät bedienen konnte, geschweige denn eine Ahnung hatte, wie man irgendeinen Cocktail zubereitete. Mein Chaos- Ich war in dieser Situation auch nicht fähig, mit Geld und Kasse ordentlich umzugehen und alles einzubuchen. Praktischerweise war ich komplett alleine, weil wirklich alle meine lieben Kolleg*innen spontan beschlossen hatten, auszugehen oder sich schlafen zu legen. Da stand ich also nun. Rannte quasi alle fünf Minuten runter, um jemanden zu wecken und etwas zu fragen. Bis dann einer der anderen aufwachte, nicht darauf klar kam, dass man mich komplett alleine gelassen hatte und für die nächsten Tage während meiner Schichten in meiner Nähe blieb.
Die erste Woche war trotzdem eine Herausforderung. Ich hatte auch immer die Schicht von 16 bis 24 Uhr mit Bar und Gäste einchecken und herumführen. Ich versuchte mir die wichtigsten Vokabeln und Grammatik reinzupowern, aber während der Schicht war es auch immer so stressig, dass ich nicht richtig dazu kam. Und eine Sprache kann man halt auch nicht an einem Tag lernen.
Und Portugiesisch und ich, wir hatten so unsere Schwierigkeiten miteinander. Ich geb zu, am Anfang mochten wir uns nicht besonders. Vor meiner Reise,war ich auch noch nie wirklich damit in Berührung gekommen. Als ich in Portugal war, gefiel mir nicht mal der Klang der Sprache und ich sagte mir: „Diese Sprache werde ich nie lernen“. Zu wenig Nutzen, weil kaum Länder (und schon Spanisch) für zu viel Aufwand (Aussprache, bliblablub). Ich war echt froh gewesen, danach wieder in Spanien und auf den Kanaren zu sein. Tchau Portugiesisch. Aber dann kam Kap Verde plötzlich mit einem „Olá Frida, hier bin ich wieder“ um die Ecke. Nix tchau. Und spätestens in Brasilien wurde mir dann klar, dass Portugiesisch und ich unser Kriegsbeil endgültig begraben mussten. Im Nachhinein weiß ich aber auch nicht mehr, wie ich bei der Rechnung: „Ich spreche die Sprache nicht+ ich habe noch nie in einem Hostel gearbeitet“ auf „= ich arbeite in nem Hostel, dessen Sprache ich nicht sprec“ kam.
War ja nicht genug, dass ich in dem einzigen Land auf allen amerikanischen Kontinenten reiste, dessen Sprache ich überhaupt nicht sprach. Nein, ich musste mir auch noch nen Job suchen, bei dem man permanent mit Leuten sprechen musste. In der Beschreibung hatte gestanden, es würde reichen, wenn man Spanisch sprach, weil man sich dann bestimmt schnell einfände ins Portugiesische. Und auf andere Freiwillige, die Spanisch als Muttersprache hatten, traf das ja auch zu. Aber meine Spanisch-Kenntnisse waren zu diesem Zeitzpunkt zugegebener Maßen noch nicht ganz auf Muttersprach-(geschweige denn irgendeinem) Niveau.
Aber da stehst du nun an deinem Arbeitsplatz und wünschst dir, dein Leben wäre eine Realityshow. Dann könntest du wenigstens noch Geld mit deiner Dummheit verdienen.
Ich hatte meinem Vorgesetzten auch angeboten, das Hostel zu verlassen (kann ja eigentlich nicht sein, dass da jemand an der Rezeption steht, der die Leute nicht versteht), aber er meinte, ich würde mich schon einfinden.
Und es wurde besser. Ich verwandelte mich zwar immer noch jedes Mal innerlich in eine geschockte Comic-Katze, wenn das Telefon klingelte, aber ich schaffte es, es immer jemand anderem in die Hände zu drücken.
In den nächsten Wochen hatte ich auch entspanntere Schichten. Ich verstand immer mehr, von dem was die Leute sagten, es kamen auch internationale Gäste (sodass dann sogar ich manchmal zum dolmetschen geholt wurde) und irgendwann beherrschte ich sogar das Telefon.
Sollte jemand mal in einer ähnlichen Situation sein, hier mal ein paar Tricks, wie man mit Gesprächssituationen in einer fremden Sprache fertig wird (insbesondere am Arbeitsplatz):
1. Lächeln (auch wenn du innerlich gerade Panik kriegst), souverän wirken.
2. Schlüsselsätze raussuchen, die man immer braucht (z.B. oder auch, um kurz zu erklären, dass man neu und ein bisschen dumm ist und noch nicht alles versteht, weil man die Sprache noch lernt)
3. Intonation! Die Melodie, die ein vor dir schwebender Satz hat, nimmt dir schon viel Arbeit ab. Klingt die Person belustigt oder lacht sie sogar?: War nichts wichtiges. Lach einfach auch. Ist es eine Aussage ohne Nachdruck ggf. Nachdenklich und ohne Augenkontakt?: Scheiß drauf, mach nichts und falls es wichtig war, wird sie es schon wiederholen. Klingt es wie ne Frage?: Scheiße. Fall spontan in Ohnmacht.
4. Schweigen, lächeln, leicht auffordernd fragend gucken. Bring den Menschen unterbewusst dazu länger zu reden. Mir ist aufgefallen, dass es manchmal einfacher ist, lange Gespräche zu verstehen. Denn falls du einen Satz nicht verstehst, kommt vielleicht direkt ein nächster um die Ecke, der dir mehr weiterhilft. Wenn dir jemand nur einen einzigen Satz vor die Füße wirft, weil er irgendwas von dir will, aber du das zentrale Wort nicht verstehst (nämlich das, was die Person von dir will) kannst du halt nur charmant lächeln und um Erklärung bitten oder
5. Auf gut Glück das tun, was am naheliegendsten wäre. (Allerdings sollte man nicht zu oft dieses Glückspiel spielen (-Nein zu Glückspiel, Kinder.), denn ansonsten wundern sich die Menschen irgendwann warum du ihnen immer eine Wasserflasche in die Hand drückst, wenn sie dich um eine Auskunft zur finanziellen Situation gebeten haben.)
6. Sprache lernen
Aber mit dem Hostel wäre das Job-Problem noch nicht gelöst gewesen. Geld wächst ja bekanntlich nicht auf Bäumen. Also hatte ich noch in der ersten Woche einen neuen Anlauf an Punkt 3 gestartet. Mit meiner- sagen wir kreativen Auslegung der Sprache und für nur einen Monat Aufenthalt würde es schwierig werden irgendwo (zB. In einer Bar oder Sprachschule) angestellt zu werden. Also musste ich mich selbstständig machen. Was macht man also in einer Stadt voller Hipster und Touris? Fotos. -Es wurde Zeit, der Polaroid-Kamera eine neue Chance zu geben.
„Becco do Batman“ ist ein Weg mit Graffiti-Kunst an den Wänden und ein beliebter Touri-Ort in der Stadt. Und hier fand ich meinen Arbeitsplatz. Wie sich herausstellte, war ich da nicht die Einzige. Es gab einige Fotograf*innen dort, die aber hauptsächlich kurze Fotoshootings mit professionellen Kameras anbote. Und dann noch Menschen, die ihre Kunst, ihren Schmuck oder Getränke verkauften. Besonders am Wochenende wimmelte es nur von Touris und Künstler*innen und es war wie ein Straßenfest.
Unter der Woche war es eher ruhig. Nachdem es sich im Hostel ein bisschen eingependelt hatte, schaffte ich es, öfter dorthin zu gehen. Was ich dort durch die Fotos, die ich von den Menschen machte verdiente, war natürlich nicht viel, aber reichte, um mein Essen und sonstige Alltagskosten zu decken.
Und allein schon wegen des Ortes und der Leute ging ich gerne hin. Es heiterte mich immer auf, mit meinen Künstler- „Kolleg*innen“ zu quatschen, bevor sie sich wieder zusammen rissen und Touris ansprachen, um die Miete bezahlen zu können und ein bisschen miteinander zu jammen, wenn der Tag vorbei war.
Aber nicht nur mit meinen Freunden dort verbrachte ich die Zeit, auch mit den Touris quatschte ich viel. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, Deutsche aufzuspüren. Manchmal konnte man sie schon von weitem erkennen. Und sie erschraken erstmal ein wenig, wenn die vermeintliche „Brasilianerin“ in perfektem Deutsch einen Kommentar von der Seite abgab.
Der Stadtteil, in dem dieser Ort lag, war einer der wohlhabenderen und hipperen. Auf meinem Weg von der Bahn, lief ich an vielen Bars, co-working spaces und veganen Restaurants vorbei. Und auch mein Hostel hatte wie gesagt eine Top Lage im zentraleren Teil der Stadt. Ich sah also meistens nur das gleiche Gesicht dieser riesigen Stadt. Und natürlich gefiel es mir. São Paulo verfügt außerdem über ein ziemlich großes vielfältiges kulturelles Angebot (viel davon umsonst). Hätte ich die Sprache verstanden, hätte ich also zu openair-Kinos, Poetryslams, Theaterstücken über Rassismus oder Diskussionen über Frauen in der Filmindustrie gehen können. Außerdem konnte ich mit einem veganen Burger in der Hand Skateboard fahren und beliebige Hipster von der Kunsthochschule auf Englisch nach dem Weg fragen. Aber so konnte nicht die ganze Stadt sein.

Auf einer Grillparty von ein paar Deutschen (die ich beim Fotografieren kennengelernt hatte) mit ihren brasilianischen Freunden erklärten mir Letztere die soziale Gliederung der Stadt. Im Süden etwa sei es am gefährlichsten und ärmsten und ich solle auf keinen Fall dorthin gehen. Drei Mal dürft ihr raten, welchen Ort ich direkt auf meine imaginäre To do-Liste setzte. Wie der Zufall es wollte, lernte ich direkt am nächsten Tag im Publikum einiger Straßenmusiker*innen André kennen, der im Süden wohnte und verpflichtete ihn dazu, mir seinen Stadtteil zu zeigen. Mit dem Bus brauchte ich erstmal zwei Stunden dorthin und als ich ausstieg, war ich wie in einer anderen Stadt.

„Kirchen und Kneipen. Sonst gibt es hier eigentlich nichts. Willkommen in der Peripherie.“ Kurz hinter Andrés Wohnung war gerade erst eine Favela von der Polizei platt gemacht worden, aber die nun obdachlosen Familien suchten sich natürlich einfach einen neuen Ort. Während wir durch das Viertel liefen, das bis Anfang der 2000er noch als das gefährlichste der Stadt galt, erklärte er mir, wie sich das geändert hatte, wie eine bestimmte Kirche in Zeiten der Inflation den Kampf für die Menschen aufgenommen hatte, die Schwierigkeiten für Kultur- und Bildungsangebote (und algemeine Probleme) mit kaum finanzieller Unterstützung (vor allem nun unter der neuen Regierung) und warum der Rassismus immer noch präsent ist in dem optisch so vielfältigen Land. André unterrichtete in einer Schule im Stadtteil und nahm mich noch mit zum Trompetenunterricht, den er dort unter anderem anbot. Die Kinder halfen mir mit der Trompete und am Ende bekam sogar ich einen Ton heraus.
Zu denken, dass es in meinem Teil der Stadt komplett sicher war, war aber auch ein Fehler. Ich fühlte mich komplett „normal“ und lief auch noch nachts alleine durch die Straßen. Dass es einer der ruhigeren Stadteile und keiner der armen war, sah man auch an den Zäunen, mit denen alle Häuser abgesichert waren. Meistens gab es dazu auch noch einen Portier.
Eines Tages lief aber ein US-amerikanischer Hostel-Gast unweit des Hostels auf der Straße entlang während er munter mit seinem Smartphone vor dem Gesicht Video telefonierte und ein Radfahrer riss es ihm aus der Hand. Unser lieber Gast hatte natürlich keine Chance in der Verfolgung. Ein Essenslieferant auf einem Motorrad allerdings schon und dieser brachte ihm dann auch das Handy zurück. Das ist wahrscheinlich die netteste Art des Schicksals, dir eine Lektion zu erteilen.


Irgendwann ging dann aber natürlich meine Sãopaulozeit zu Ende. Und wenn dich Leute auf der Straße grüßen, du ein Abo für ein Mietfahrrad hast und fast alle Stationen dafür kennst, es dich aus dem Konzept bringt, wenn du deinen Lieblingstopf nicht benutzen kannst und du auf mehr Geburtstagen warst als auf Sightseeing-Touren, bist du an einem Ort wahrscheinlich angekommen.
Und dann wird es für mich auch schon wieder Zeit weiterzuziehen.