Rio bis zur Grenze- Wie ich Zuflucht bei Jesus fand

Reifen auf Asphalt, Abgase in der Nase, Pappe in der Hand. Die Straße hatte mich wieder.

Am Abend zuvor hatte ich mir in der Favela im Internetcafé von Henriques Freund den Weg zu einem potentiellen Tramp-Ausgangspunkt herausgesucht. Umringt von den im Laden versammelten Männern und ihrer Belustigung. „Es fahren auch Busse, Mädchen.“ Henrique selbst war ziemlich unglücklich bzw. besorgt gewesen, über meine weitere Reiseplanung.

Aber hier stand ich nun auf einem Rastplatz als einsames, wehrloses, naives Mädchen und wartete darauf, von dem gefährlichen Brasilien getroffen zu werden.

Es traf mich zunächst in Form von hilfsbereiten respektvollen PKW- Fahrern, die mich ohne zu zögern ein Stück mitnahmen sobald ich sie ansprach. Zwar nur kurze Distanzen, aber ich wollte einfach vom Fleck kommen.

Anfangs war ich ja noch bereit gewesen, weiblich be“mannte“ Autos vorzuziehen, aber es gibt so Orte, an denen man nur schwer an die 50/50 Geschlechterverteilung auf der Erde glauben kann. Die Autobahn ist in manchen Stunden an manchen Orten so ein Ort. In meinen ersten Stunden zählte ich etwa acht Autos mit Frauen (die natürlich nicht anhielten). -Diejenigen lediglich als Begleitung auf dem Beifahrersitz mitgerechnet. Das mag vielleicht ein extremes Beispiel sein, aber nichtsdestotrotz führte es dazu, dass ich, wie auch schon in Europa, quasi nur bei einzelnen Typen mitfuhr. Unsere Gespräche drehten sich dann hauptsächlich darum, in welcher Gefahr ich mich gerade befand. Sie waren zwar immer gute Menschen, aber natürlich längst nicht alle.

Schließlich gabelte mich am Straßenrand tatsächlich eine solidarische Frau auf. Sie war Biolehrerin und nach zwei Stunden Fahrt kannte ich nicht nur alle Landschaftszonen Brasiliens, sondern war auch bestens über die aktuelle Kritik an der neuen Rentenreform informiert. Die Strecke war wunderschön und führte an der Küste entlang. Auf der einen Seite das Meer, auf der anderen das Grün.

Am späten Nachmittag kam ich in Paraty an. Einer kleinen Stadt, die wegen ihrer gut erhaltenen Häusschen im Kolonialstil bei Touris sehr beliebt war. Auf meinem Weg in die Stadt hinein erspähte ich einen Reise-Rucksack an einer Tankstelle. Daneben hockte ein Typ mit einem sporadisch beschrifteten Blatt Papier in der Hand. Kein Zweifel, ein Kollege. Er erklärte seinen Tramp-Vorhaben für heute unverrichteter Dinge für erledigt und zeigte mir stattdessen das Städtchen. Durch ihn kam ich abends dann in ein billiges Hostel, in dem der Preis in dieser Nacht sogar auf umgerechnet 3€ heruntergesetzt worden war.

Am nächsten Tag schaffte ich es trotz anfänglicher Schwierigkeiten bis nach São Paulo. Zuerst weiter an der Küste entlang, dann mit einem VW- Bully die Serpentinen hoch durch den Wald. Wunderschön, leider habe ich keine Fotos.

Nach einem Tag bei einer Freundin und ihren Mitbewohner*innen in São Paulo verließ ich die Stadt zum letzten Mal und trampte weiter nach Curitiba.

Ich gebe zu, der LKW-Fahrer, der mich dorthin mitnahm, war ein wenig creepy. Ich war allerdings so müde, dass ich trotzdem zwischendurch wegdämmerte (mit meinem Messer griffbereit). Als ich aufwachte, waren wir nicht etwa da, sondern mitten im Nirgendwo auf einem fast verlassenen Parkplatz. Es war schon später, als ich einkalkuliert hatte, wir hatten noch die Hälfte vor uns und er hatte vor, erstmal ein, zwei Stündchen zu schlafen. Als er begann, die Vorhänge zuzuziehen, machte ich mich besser aus dem Staub und sagte, ich würde draußen warten. In meiner Eile hatte ich nur mein Handgepäck gegriffen. Der Großteil meines Besitzes war noch im LKW und er hätte damit jede Sekunde losfahren können, während ich auf dem leeren Parkplatz an der verlassenen Schnellstraße stand und es natürlich gerade anfing zu regnen. Ich stellte mich erstmal in einer kleinen Werkstatt unter, die infrastrukturell etwa das Einzige auf diesem Rastplatz war. Der Einzige, der mir Gesellschaft leistete, war ein alter LKW- Fahrer, den ich kaum verstand (was neben dem Portugiesich auch daran liegen konnte, dass er kaum noch Zähne hatte), der mir aber zu erzählen schien, wie beliebt unter seinen Kollegen doch Sex mit Tramperinnen war. Das bekam allerdings ein anderer Typ mit, der in der Nähe gestanden hatte und schaltete sich ein. Es stellte sich heraus, dass er seinen LKW in der Werkstatt gehabt hatte, aber jetzt schon weiter dorthin fuhr, wo ich hinwollte. Mein vorheriger Fahrer war zwar nüchtern betrachtet total harmlos und in keinster Weise übergriffig gewesen, aber der andere fuhr außerdem schon früher weiter und war einfach angenehmer (außerdem transportierte er Blumen, im Gegensatz zum creepy dude, der tote Tiere transportiert hatte). Also befreite ich mein Zeug aus dem schlafenden LKW und wechselte dankbar das Fahrzeug. Und ich sollte es nicht bereuen.

Der neue Fahrer und sein Gehilfe waren unglaublich zuvorkommend, fütterten mich mit Obst, luden mich zum Essen ein und steckten mir noch Essen und ein bisschen Geld zu.

Dann waren wir da und ich stand irgendwo am Rande der Stadt Curitiba. Es war schon dunkel, aber ich hatte keine Lust, Geld für ein Hostel auszugeben. Also lief ich in die nächst beste Straße rein, um Leute zu fragen, ob ich mein Zelt in ihrem Garten aufstellen könne. Problem: Die Häuser hatten vor den Toren keine Klingel. Dafür allerdings fast immer Hunde, die jede Klingel in den Schatten stellten. Und sagen wir, sie klangen nicht gerade gastfreundlich. Die einzigen Menschen, die ich beim Müll rausbringen erhaschte, hatten selbst Angst, dass mich ihre Köter zerfleischen würden, wenn ich im Garten zelten würde. Einer verwies mich allerdings an eine Kirche um die Ecke.

Perfekt dachte ich mir. Eine Kirche konnte mich ja allein schon aus Image- Gründen und Karma- Punkten (oder was auch immer das christliche Equivalent wäre- Treue- Punkte vielleicht) nicht abweisen.

Das Gotteshaus entpuppte sich als ein baptistisches, riesiges, schlichtes Gebäude, in dem gerade ein interaktiver Abendgottesdienst für die geschätzt etwa zweihundert 14- 17 jährigen der Gemeinde stattfand. Ich sprach mit einigen überwachenden Erwachsenen, die sich in ihrem lockeren Pläuschen mit mir dann doch nebenbei mal erkundigten, ob und wie ich den gläubig sei. -Schließlich sind wir vor Gott alle gleich- einige sind aber natürlich ein bisschen gleicher. Ich brachte also ungefragt immer mal wieder meine Kirchenvergangenheit ins Spiel und erwähnte kontextunabhängig meine Konfirmation- kurzum: ich war bereit, auf Teufel komm raus meine Zugehörigkeit zu demonstrieren. Wer allerdings erstmal raus kam war nicht der Teufel, sondern der Pastor (dem natürlich direkt glücklich erzählt wurde, dass ich Christin war). Nach einem Telefonat mit seinem Chef (nein, nicht dem obersten, soweit ist die Technik noch nicht) sagte er allerdings, es sei besser, wenn ich nicht auf dem Kirchengelände bliebe, sie könnten mir allerdings ein Hotelzimmer bezahlen. Erstmal müsse er jedoch zu Ende arbeiten und ich beschloss, mir in der Zwischenzeit eine Lösung zu überlegen. Während ich so durch Gottes Gemächer lief, wurde ich von einem Jungen in meinem Alter aufgegabelt, der mir gleich anbot, mich durch die Gebäude zu führen. Er selbst hatte erst vor ein paar Jahren zum Glauben gefunden, war deshalb aber nicht weniger überzeugt. Gott habe ihm aufgetragen nach Ägypten zu gehen, um dort Missionierungsarbeit zu leisten, sagte er, als er mir von seinen Zukunftsplänen erzählte. Was für mich, sagen wir erstmal reichlich befremdlich klang (gerade im Kontext von Südamerika), war für die Gemeinde nichts Ungewöhnliches . Den Missionar*innen, die aus der Gemeinde hervorgegangen waren, war eine Wand mit gerahmten Fotos gewidmet. Manchmal zeigten sie ganze Familien in Europa, Afrika oder sonstigen Teilen der Welt.

Während er mich durch das Gelände führte, stellte er mich allen möglichen Leuten vor, denen wir begegneten. Amanda, eine seiner Freundinnen, mit der wir eine Weile geredet hatten, bot mir an, bei ihr zu schlafen. Und so fand ich mich kurz darauf im Leben einer curitibanischen Familie wieder. Der erste, dem wir bei ihr zu Hause begegneten, war allerdings ihr Freund, der, nach einem Gespräch ihrer- und einer Weile warten im Zimmer meinerseits, allerdings nur noch ihr Ex-Freund war. Nach diesem unerwarteten Liebeskummer-Abend, den wir zusammen durchstanden, waren sie und ich direkt schon einmal zusammengeschweißt, außerdem konnte die Stimmung nur noch besser werden und ich verbrachte das ganze Wochenende dort.

Stadtführung mit Amanda

Währenddessen landeten wir auch immer mal wieder in der Kirche, in der alle irgendwie ständig abhingen. Am nächsten Abend gab es zum Beispiel einen Gottesdienst für die Jugendlichen/ jungen Erwachsenen, gekoppelt mit einer kleinen Talentshow. Es wurde gebetet, getanzt, geschauspielert, selbst geschriebene Lieder wurden vorgesungen… Ich bin mir sicher, Gott hat’s gefallen. So gut wie alle Songs handelten von ihm.

Ansonsten verbrachte ich auch ein bisschen Freizeit mit den Kirchenmenschen, um so essentielle Dinge im Leben junger Menschen unserer Zeit zu tun, wie sich zum Game of Thrones- Finale- Public viewing zu treffen (und sich im Nachhinein solange darüber aufzuregen, bis der nächste Gottesdienst begann).

Komplexes Bussystem in Curitiba mit eigenen Busstraßen

Während ich mir die Stadt ansah, fühlte ich mich gelegentlich an Deutschland erinnert. Das mag zum einen am Stadtbild gelegen haben, wurde aber auch sicher durch die winterlichen Temperaturen beeinflusst, die bisher einen Rekord in meiner Brasilienzeit aufstellten. Allerdings war der Süden Brasiliens auch tatsächlich von Deutschen beeinflusst worden. Hauptsächlich während des 19. und 20. Jahrhunderts emigriert, siedelten sie sich vor allem in den vier südlichsten Staaten, sowie einem kleineren Küstenstaat an. Den damaligen Einfluss sieht man heute noch in der Architektur. In einem Städtchen namens Blumenau findet jährlich das zweitgrößte Oktoberfest außerhalb Münchens statt. Auch in der Kirchengemeinde in Curitiba outeten sich mir gegenüber ein paar (klischeehaft tatsächlich immer Blonde) als von deutscher Abstammung und konnten sich auch (auf verschiedenen Leveln) mit mir auf Deutsch unterhalten.

Berlin-Bar

Nach diesem Wochenende war ich zwar nicht zum Glauben bekehrt, aber glücklicherweise eine Weile vom Draußen- Zelten in der Kälte der Region (die ich dann doch ganz schön unterschätzt hatte) verschont worden und setzte dankbar meinen Weg Richtung brasilianisch-argentinisch- paraguayisches Dreiländereck fort. Und dies unter einem guten Stern, da die halbe Gemeinde für mich beten wollte. Ich hatte mir dieses Ziel ausgesucht zum einen, um pünktlich das Land zu verlassen und außerdem, um mir die berühmten Wasserfälle anzusehen, die es dort gab.

Ich war also wieder unterwegs auf der Autobahn. Und es bestätigte sich wieder mal, dass es wenige Orte gab, die für mich so geldschonend waren wie dieser. Ich zeltete an der Tankstelle und bekam auf Anfrage ne gute Portion von dem, was vom Abend- Buffet im Bistro übrig geblieben war. Morgens wurde mir von den Angestellten, die dort die Autos betankten (und durch die ich auch generell immer ein bisschen Gesellschaft hatte, wenn ich länger wartete) Frühstück zugesteckt, die LKW- Fahrer, die leider nicht in meine Richtung fuhren, erkundigten sich, ob ich schon gegessen hatte und steckten mir manchmal etwas Geld zu, wenn dem nicht so war. Diejenigen, die mich mitnahmen, teilten ihre Snacks mit mir oder luden mich ein, wenn sie essen gingen.

Die Autobahn war auch ein guter Ort, um meine private kleine Politik- und insbesondere Bolsonaro- Meinungsumfrage weiterzuführen. Für die Leute in Brasilien, mit denen ich mich angefreundet oder näher zu tun gehabt hatte, war der neue Präsident immer der personifizierte Untergang des Guten gewesen. Ich wollte aber natürlich auch einmal auf jemanden stoßen, der den Mann tatsächlich gewählt hatte. Und um kulturelle Eindrücke oder derartige Stimmungsbilder einzufangen, ist trampen perfekt. Du kriegst ohne weitere Anstrengung die verschiedensten Menschen serviert und über irgendetwas musst du sowieso reden. Von den Befürwortern, die ich traf, hörte ich hauptsächlich, Herr Präsident würde endlich einmal Dinge in die Hand nehmen, etwas gegen die Misswirtschaft und für sie als Arbeiter*innen tun. Die Entlassung nicht weniger Minister*innen mit anderer Meinung als der Bolsonaros wurde auf Nachfrage mit Kampf gegen die Korruption oder nötiger Durchsetzungskraft gerechtfertigt. Wenn ich nach anderen konkreten Meinungen fragte, etwa zu der Enteignung des Landes der indigenen Bevölkerung, hatten die wenigsten etwas davon mitbekommen oder gaben zu, die Nachrichten in die Medien eigentlich nicht direkt zu verfolgen.

Was Bolsonaros Ablehnung gegenüber philosophischen oder soziologischen Abschlüssen und die finanzielle Kürzung im Bildungswesen bedeutete, hatte ich bereits in Curitiba erfahren. Einer von Amandas Freund*innen, der für mich zum ersten Mal für Bolsonaro gesprochen hatte, hielt diese Maßnahme für wirtschaftlich wertvoll. Amanda (die seine Verteidigung des Präsidenten rasend gemacht hatte) schob seine konservativere Meinung auf seine Militärsfamilie und die Erziehung in einer militärischen Schule. Sie war in ihrem ersten Jahr Philosophie an der örtlichen Hochschule. Ein paar ihrer Kommiliton*innen hatten vor der Uni ein kleines Protestcamp errichtet. Amanda, da mit 17 noch minderjährig, schlief allerdings noch zu Hause, um der Sache dadurch nicht zu schaden. In ihren Kursen wurde diskutiert, den Unterricht aus Protest ausfallen zu lassen. Sie hielt das für kontraproduktiv. An ihrer Uni hingen Statement- Banner. Im ganzen Land waren die jungen Leute auf die Straße gegangen. Ob sie jedoch jemals Philosophie- Lehrerin werden würde, konnte Amanda nicht mehr sicher sagen.

Der LKW-Fahrer, der mich das letzte Stück mitnahm, kannte von der Welt lediglich die Orte, die auf der Strecke lagen, die er täglich fuhr. Das war an sich jetzt nichts unglaublich außergewöhnliches und hätte auch so bleiben können. Nach den Stunden, die wir zusammen fuhren, wusste ich allerdings, dass sein Leben auf der Autobahn seine Ehe zerstört hatte und kannte deren jetziges Verhältnis zueinander. Er hatte außerdem zugegeben, dass er keine Freunde hatte. Er hatte Gefallen gefunden, an meiner Reise und spielte mit dem Gedanken, eins seiner zwei Autos zu verkaufen und mit dem anderen ebenfalls eine Weile zu reisen. Er hatte, während wir redeten, auf einmal realisiert, dass sein aktuelles Leben ihm nicht viel bot und eigentlich zu wertvoll war, um den ganzen Tag auf der Autobahn zu verbringen. Er brauchte eigentlich das Geld, war dann aber schließlich auf die Idee gekommen, sein Auto zu verkaufen. Als ihn ein Kollege anrief, wurde diesem direkt von seinen neuen Weltreise- Plänen erzählt.

Schließlich an der Dreiländergrenze angekommen, wurde ich von einem Couchsurfer zu einem Spiel der Weltmeisterschaft mitgenommen. -Der U20 im Futsal. Und ich kam bei einem anderen Couchsurfer unter, der in einer Art Hotel wohnte und wirklich das beste Beispiel für eine typische Junggesellen- Bude bot. Das Einzige im Zimmer waren eigentlich die Betten und der Tisch. Im Kühlschrank fand sich das nötige komplette Sortiment bestehend aus Kola, Alkohol, dem Geschirr und einer Riesen Flasche Ketchup.

Die Stadt lag so nah an den Grenzen zu Argentinien und Paraguay, dass ich sie zu Fuß überqueren konnte. Eigentlich war mein Plan gewesen, nach Argentinien weiter zu ziehen, aber nach einem kurzen Besuch in Paraguay schnappte ich mir spontan meinen Rucksack und machte ich mich erstmal auf in dieses Land.

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