(Zwei Wochen im Januar)
Stell dir vor, du fährst auf einem Boot auf einem Fluss, umgeben von nichts als Regenwald. Die Dörfer auf deinem Weg größten teils selbstversorgend und fern von Supermärkten oder Geldautomaten.
Du hast über 800 Kilometer Flussstrecke vor dir, musst eine Grenze überqueren, bist inzwischen theoretisch illegal und musst für die knapp zwei Monate, die du überzogen hast, Strafe zahlen.
-Und du merkst, dass du kein Geld dabei hast.
Nach zwei Monaten in der Stadt Iquitos im peruanischen Amazonas-Gebiet und insgesamt sechs/ sieben Monaten in Peru brach ich endlich auf, um das Land zu verlassen. Von Iquitos aus sollte mich ein Passagier- und Güter-Boot zur ecuadorianischen Grenze bringen, von wo aus ich noch einmal etwa 300 Kilometer auf dem Fluss würde zurücklegen müssen.
Nach fünf Tagen Verzögerung legte das Boot also ab. Typischer Weise dienten die über den Gang gespannten Hängematten als Betten und nebenbei auch als Hindernisse auf dem Weg zur Küche. Die Stimmung an Bord war familiär und ich freundete mich schnell mit der Crew an (was sich später noch als nützlich erweisen sollte).
Wie zu erwarten: ein nicht versiegendes Meer an Bäumen, aber auch unerwartet viele Häuser und Dörfer an den Ufern, von denen wir, anders als auf der Hinfahrt erstaunlich viele auch anfuhren.
Die Dorfbevölkerung erwartete uns meistens schon am Ufer. Allen voran in der Regel eine Schar von Kindern, die im Verhältnis zur Anzahl an Erwachsenen schon vermuten ließ, dass Einzelkinder hier wohl eine Seltenheit waren.
Bestellte Pakete an Lebensmitteln aus der Stadt oder Fässer voll Zuckerrohrschnaps, wurden abgeladen, Benzinkanister für die Kanus wurden aufgefüllt und dann ging es weiter bis zum nächsten Dorf.
Auf der Strecke bogen wir gelegentlich auf kleinere Nebenflüsse ab, was die Natur (fast tatsächlich) greifbar machte.
Soweit die Kulisse. Recht schnell nachdem wir uns auf den Fluss begeben hatten und das mit dem Boot also geklärt war, fiel es mir dann doch mal ein, den nächsten Schritt zu denken. Ich bemerkte, dass ich gerade genug Geld für eine groß Flasche Wasser gegen den Durst in der Hitze und zwei Packungen Kekse hatte.
Es zeichnete sich zudem ab, dass unser Zielort Pantoja, der letzte Ort vor der Grenze, wirklich ein Dorf war und weder über einen Geldautomaten, noch über nennenswerte Restaurants verfügte, vor denen man hätte Geige spielen können. Straßen waren außerorts Fehlanzeige. Ich würde also von dort ein weiteres Boot bezahlen müssen. Es gab keine andere Möglichkeit. Wenn ich nicht auf ein Wunder à la Sterntaler warten wollte, musste ich also irgendwie schnell Geld verdienen. Die Möglichkeiten waren begrenzt.
Neben Kleidung und Camping-Ausrüstung befanden sich in meinem Gepäck:
Die Geige, 15 Sol (etwa 4€) und ein Haufen Wolle.
Die Wolle hatte ich noch von der letzten Bootsreise, auf der ich vorgehabt hatte, Häkeltops zu häkeln, um diese dann zu verkaufen (was allerdings vom Zeit-Aufwand nicht rentabel gewesen war). Jetzt kam mir aber eine andere Idee…
Schon bald sah man die einzige Touristin an Bord also von morgens bis abends Armbänder knüpfen. Diejenigen, die mir einmal über die Schulter schauten, fragten wo ich das denn gelernt hätte und waren sichtlich fasziniert von der scheinbar so komplexen Knüpftechnik. Was ich ihnen nicht sagte: Es war die einfachste. Und diese Armbänder waren die ersten, die ich in meinem Leben herstellte. Aber so verkauften sich bereits die ersten paar einfach nur vom Zusehen.
Viele der Freunde, die ich bereits auf meiner Reise kennengelernt hatte, hatten ihr Geld mit selbst gemachtem Schmuck verdient- meistens natürlich auf deutlich professionellerem Niveau). Ich kannte Leute, die die meiste Zeit einfach nur von Armbändern lebten. Es musste also möglich sein. Immer hatten sie mir angeboten, mir das Knüpfen beizubringen. Zu mehr als einem halben verkrüppelten Armband hatten mein Interesse und meine Geduld allerdings nie gereicht. Aber auch das erwies sich nun als nützlich.
Als ich das Boot verließ, zierte jedes Handgelenk der Crew auf dem Boot ein wunderschönes Armband.
Damit schien die Hochphase des Verkaufs aber auch schon vorbei zu sein. Sobald ich Pantoja betreten hatte war mir klar, dass es hier schwierig bis unmöglich sein würde irgendetwas zu verkaufen.
In dem 600-Seelen-Dorf lag wahrscheinlich gleich ein ganzes Rudel Hunde begraben. Hätte es in Pantoja Füchse oder Hasen gegeben, hier hätten sie sich gute Nacht gesagt. Den meisten Schwung hinein brachte noch die ein oder andere Hängematte auf der Veranda und die Geräuschkulisse wurde beherrscht von dem Schweigen der nicht vorhandenen Autos.

Erst einmal wurde ich allerdings vom einzigen Grenzbeamten in Gewahrsam genommen. Die Strafzahlung pro Tag in Peru war zwar vergleichsweise sehr günstig, trotzdem weigerte ich mich zu zahlen (abgesehen davon, dass ich ja nicht einmal in der Lage dazu gewesen wäre) und wurde angewiesen, bei der Polizei nebenan den nötigen Papierkram zu erledigen. Damit schien die Sache erst einmal erledigt zu sein, bis zu einem späteren Zeitpunkt meines Lebens, in dem ich möglicher Weise wieder würde einreisen wollen.
Die Polizei bestand im Dorf aus insgesamt acht jungen Männern, die jedes Jahr für ein Jahr an einen anderen Ort pflichtversetzt wurden. Und dieses Jahr hatten sie alle Pantoja abbekommen. Im selben Haus, in dem sie lebten befand sich auch ihr Büro. Da in dem Dorf sowieso nichts abwechslungsreiches passierte, hatten die Jungs nichts dagegen, dass ich mein Zelt vor ihrem Haus aufstellte. Wegen des Papierkrams musste ich sowieso noch mindestens einen Tag länger bleiben. Strom gab es nur abends. Ich war nun also offiziell ein krimineller Staatsfall, der durch illegalen Aufenthalt das Gesetz gebrochen hatte und den Polizisten zusätzliche Arbeit bescherte (auch wenn mir schleierhaft war, womit sie sich sonst in diesem Dorf beschäftigten). In der Praxis jedoch wohnte ich mit den Polizisten zusammen, spielte mit ihnen Volleyball und saß plaudernd in der Küche, bis ich wieder verhört wurde. Bei dem „Verhör“ schien die wichtigste Frage die nach meinem Familienstand zu sein und es lief in etwa so ab: „Name?…Geburtsdatum?…Familienstand?… also ledig, ja? -Single… Weder verheiratet, noch verlobt, noch verwitwet?“ -„Verwitwet, mein Ehemann hat zu viele Fragen gestellt.“- „Was sagtest du?“- „Nichts.“- „War dir bewusst, dass du nach Ablauf der Frist ausreisen musst?… Sind deine Wimpern echt?“
Das Verlassen des Dorfes würde sich dafür umso schwieriger gestalten. Ich hatte im Dorf vielleicht zusätzlich nicht mehr als drei Armbänder verkaufen können (davon nicht eines an einen Menschen aus dem Dorf selbst) und um auf die andere Seite der Grenze zu gelangen brauchte ich doppelt so viel Geld wie ich nun hatte. Es versprach spannend zu werden…
Ich hatte also noch nicht genug Geld beisammen, um den Ort zu verlassen. Wenn ich in dem Ort blieb, würde ich allerdings auch nicht mehr Geld verdienen können. Also war es wahrscheinlich auch keine Option, auf ein vergleichsweise günstigeres großes Boot in einigen Tagen hin zu sparen (und das wenige Geld in der Zeit nicht von Nahrungsmitteln auffressen zu lassen).
Zehn Minuten nachdem ich mich am Bootssteg nach meinen Möglichkeiten erkundigt hatte und zurück ins Polizei-Revier gekehrt war, stand ein junger Typ im Dunkeln vor dem Präsidium und wollte zu mir. Er und ein Freund hatten gerade ein paar Touris von Ecuador aus über die Grenze gebracht und wollten nun wieder zurück. Irgendjemand hatte sie an mich verwiesen.
Weil sie nicht nur meinetwegen fuhren und sowieso wieder zurück mussten, konnten sie mich billiger mitnehmen.
Die Polizisten konnten den Papierkram plötzlich ganz schnell abschließen (schließlich war es auch abends und es gab Strom.) Sie wünschten mir Glück, ich bekam ein letztes Wimpern-Kompliment und war aus der Tür.
Die Jungs verlangten 20 Dollar für die Überfahrt. Ich handelte auf 15 runter. Ich zählte mein Geld. Ich hatte 17.
Kurz darauf saß ich also im Motor-Kanu lediglich mit meinem Gepäck und zwei Dollar in der Tasche und rauschte glücklich und frei wie ein Vogel über den vom Mond beschienenen Fluss durch Wald und Nacht nach Ecuador.
Die Nacht über kam ich in einem überdachten Ausflugs-Boot unter, in dem einer der Jungs, die mich hergebracht hatten, schlief. Nachdem er mich ins Boot gebracht hatte, verschwand er und kam kurz darauf zurück mit einer dampfenden Tasse und zwei Brötchen für mich. Letztere waren so lecker wie mir in Peru schon lange keine mehr begegnet waren. Während ich noch in der Gemütlichkeit und meinem Schlafsack versank, bestätigte er mir, dass dies gängige Brötchen hier waren. Das war für mich das letzte Zeichen dafür, dass ich mit der Überfahrt alles richtig gemacht hatte.
Am nächsten Morgen betrat ich dann ecuadorianischen Boden. Viel davon aber erstmal nicht. Ich schaffte es bis auf die nächste Bank am Ufer. Rocafuerte war schon einmal etwas größer als Pantoja. Es verfügte über mehr als ein Restaurant, eine Schule, ein, zwei Clubs und eine Karaoke-Bar und seit neustem auch über einen ausgebauten Boulevard am am Flussufer (dessen einziger optischer Unterschied zu einem deutschen S-Bahnsteig darin zu bestehen schien, dass keine S-Bahnen einfuhren). Aber es war immer noch ein Dorf. Es gab immer noch keinen Geldautomaten, keine Straßenanbindung und ich würde nochmal von Null auf das Geld für die Weiterfahrt aufbringen müssen. Aber ich war in einem neuen Land, hatte schon einmal bessere Chancen, die Sonne schien und ich war bereit für die neue Challenge. Herausforderung angenommen. Das schnellste würde sein, die Hängematte zu verkaufen.
Und dafür musste ich noch nicht einmal meine Bank verlassen. In der halben Stunde, die ich dort saß, liefen von allein mehrere Menschen aus dem Dorf an mir vorbei und fingen neugierig an, mit mir zu quatschen. Zwei Männer mit Werkzeugkasten, die gerade von der Arbeit zu kommen schienen, fragten nach meinen Armbändern, die ich gut sichtbar neben mich gelegt hatte. Ich sagte, ich würde auch meine Hängematte verkaufen. „Ich kauf sie.“, sagte der eine ohne zu zögern oder sie sich auch nur anzuschauen. Nicht im Traum hatte ich für möglich gehalten, dass das so einfach gehen würde. Ich hatte natürlich noch überhaupt keine Ahnung vom Dollar in Ecuador und davon, wie viel eine Hängematte oder ein Armband, geschweige denn eine Banane kosteten, aber trotzdem einigten wir uns schnell. „Komm wir gehen zu mir nach Hause.“, sagte der Mann als nächstes. „Zu Ihnen nach Hause…?“ -„Ich wohne gleich da vorne. Du kannst meinen Töchtern beim Kochen helfen.“ Das klang erst einmal harmlos. Ich beschloss, mir das Ganze mal anzusehen. Als wir an das Haus gelangten, stellte sich mir direkt seine Frau vor und ich blieb. Insgesamt drei Tage.
Meine neue Adoptiv-Familie bestand neben Vater und Mutter aus zwei Söhnen und zwei Töchtern zwischen 19 und 24. Die Söhne arbeiteten mit dem Vater zusammen als Elektriker, die jüngste Tochter war zum Studium weggezogen und gerade nur in den Ferien zu Besuch. Nebenan wohnten Onkel und Tante und im Dorf gab es irgendwie noch mehr Familie, bei denen ich die Verwandtschaftsverhältnisse aber nie ganz durchblickte.
Ich war nicht der erste Gast, den die Familie aufnahm. Der Vater schleppte in Abständen immer mal wieder Ausländer an, die er irgendwo im Dorf gefunden hatte. „Viele von denen sind ein kleines bisschen verrückt. Ich mag das Verrückte.“
Im Gegensatz zu Pantoja gab es in Rocafuerte nicht nur den ganzen Tag über Strom, die Familie verfügte sogar über WLAN. Der Vater war ein talentierter Hobby-Musiker und das Haus war voll von Instrumenten.
Unter anderem unterstützte er als Kirchenmusiker die Gottesdienste des Dorfes. Ich begleitete den Vater beim Gottesdienst vor der versammelten Gemeinde auf der Geige, schlenderte mit der gleichaltrigen Tochter durchs Dorf und hörte mir ihre Jungsprobleme an, ging mit ihr zu einem Geburtstag und in den Club, die gesamte Familie (inklusive Eltern, Tante und Onkel) ging mit mir zum Tanzen in die Karaoke-Bar, weil ich tanzen wollte und wir spielten (natürlich in gesamter Besatzung) abends zusammen Basketball.

Die Frage, welche jedes einzelne Familienmitglied umzutreiben schien war, welchen der beiden Söhnen ich attraktiver fand, aber obwohl ich erstmal nicht in die Familie einheiraten wollte, wollten sie mich kaum gehen lassen.
Ich war während der Tage in der Familie vollverpflegt worden (natürlich ohne dass ich meine aktuelle finanzielle Situation auch nur angedeutet hätte), weshalb ich keinen Cent hatte ausgeben müssen. Für das offizielle Boot, das mich dann endlich in eine Stadt und an eine Straße bringen würde, würde ich 20 Dollar zahlen müssen. Durch den Verkauf der Hängematte und ein paar Armbänder im Dorf besaß ich nun erst 16, wollte aber am nächsten Tag fahren. Doch da lief ich im Dorf einem französischen Bekannten über den Weg, den ich in Peru kennengelernt hatte. Er hatte zufällig einen Deal mit einem lokalen Händler ausgemacht, der ihn am nächsten Morgen mitnehmen würde. Für 15. Und wieder einmal waren das Schicksal und ich ein Level weiter.
Und so schaffte ich es nach El Coca. Zur Abwechslung hieß das Stadt. Straßen, Autos und Geldautomaten soweit das Auge reichte. Ich blieb zwei Tage und verkaufte Armbänder und zog mit der Geige los. (Dabei wurde ich wurde ich unter anderem mehrmals zum Essen eingeladen, ein Mal sogar zu Cocktails.)
In Ecuador wollte ich aber trotz all der Gastfreundschaft nicht bleiben. Kolumbien war von dieser Stadt nur einen Katzensprung entfernt. Und so sprang ich freudig rüber…