Der Mann trug eine quietschgelbe Jacke, darunter eine rote Samtweste passend zu dem Tarbusch auf seinem Kopf. Mit der Fliegenklatsche in der Hand, wie ein Zepter, thronte er auf einem der zwei Stühle mitten in seinem Kupferwarengeschäft. Hinter ihm an der Wand ein Porträt des richtigen Königs.
Er sah mich an, ich sah ihn an. Und während ich noch langsam weiter lief, überlegte ich, ob ich ihn nach einem Foto fragen sollte. Es war mein erster Tag in Fes und ich hatte eigentlich erstmal mit freien Händen durch die Altstadt schlendern wollen. Meine Kamera schlummerte irgendwo in den Tiefen meiner Tasche. Aber gut. Ich lief auf den Mann zu und grüßte ihn. „Du kannst hier arbeiten.“, sagte er auf Französisch. Pardon? „Du kannst mit mir verkaufen, ich kann hier noch jemanden gebrauchen.“ Überrascht ließ ich mich auf den anderen Stuhl bitten. Wir tranken Tee und kamen schließlich zum Geschäftlichen. Sechs Tage die Woche sollte ich von 8:30 bis 19 Uhr mit ihm im Laden bleiben, Kund:innen gegebenenfalls zum Lager führen und mir währenddessen seine Verkaufsskills abschauen. 50€ pro Woche + Kommission. Ich handelte ihn runter auf zwei freie Tage bei gleichem Gehalt, was, der Reaktion meines neuen Kollegen nach, ein ziemlich guter Deal zu sein schien.

Der Kollege und eine Kollegin in meinem Alter waren zuständig für den zweiten Laden um die Ecke, eine weitere Frau für das Lager. Das war das Team und alle waren sich sicher, dass ich mit der Zeit eine gute Geschäftsfrau werden würde. Die erste Challenge bestand darin, durch das Labyrinth der Altstadtgassen den Weg zum Lager zu lernen. Nach zwei, drei Mal Ablaufen (links, rechts, links, geradeaus , zweite rechts, erste Tür nach den Treppen) hatte es sich aber auch schon ausgechallenged. Dann saß ich da. Allein mit dem Kupferkönig, der nun seine tägliche Koran-Lesung vornahm. Danach hatte er anscheinend erstmal genug getan und döste genüsslich weg. Ich beobachtete währenddessen die Menschen die vorbeizogen. Leute, die ihre Besorgungen machten, Verkäufer, die sich die Zeit mit einem Schwätzchen vertrieben, Bettler:innen, die sich Brot-Spenden bei uns abholten, Touris, die in Grüppchen vorbeigeführt wurden und gelegentlich eine Inschrift auf der Hauswand ein paar Schritte weiter fotografierten. Was sie alle gemeinsam hatten war, dass sich niemand für den Laden interessierte.

Schließlich befahl mir der Hobby -Monarch, ein paar Schüsseln für den Verkauf in Plastikfolie zu packen. Dann saß ich wieder. Nachdem ich mich proaktiv vor den Laden gestellt hatte, um meine Eigeninitiative als Angestellte unter Beweis zu stellen, stellte er mir einen Stuhl dazu. Also saß ich wieder, diesmal vor dem Laden. Als der König kurz aus dem Haus war, gesellte sich die Herrscherin über das Lager zu mir und meinte, ich solle nicht die Beine übereinanderschlagen beim Sitzen. Also fokussierte ich eine Weile lang meine ganze Konzentration darauf, diesen Impuls zu unterdrücken. Aber auch das war auf Dauer keine zufriedenstellende Tätigkeit. Als schließlich der Herrscher zurückkehrte, um seinen Hofstaat zu entlassen, nachdem alle anderen Läden um uns herum längst geschlossen hatten, teilte ich ihm meinen Entschluss mit, die Ausbildung an dieser Stelle bis auf Weiteres auf Eis zu legen.
In den nächsten Tagen erkundete ich stattdessen die Altstadt, machte eine Stadtführung, besuchte eine Ledergerberei (seit über 1000 Jahren in Benutzung) und sonnte mich auf Dachterasse meines Hostels.

Das Hostel war ein wunderschöner nach innen gerichteter Altbau und stand mitten in der Altstadt. Es war die meiste Zeit ausgebucht, also konnte man den typischen Hostel-Gesprächen kaum entfliehen. Und so fand ich mich dann umgeben von einer Handvoll deutscher Jungs, die grade ihr Abi gemacht hatten und nun in ihrer Findungsphase waren. Einer hatte grade in einem Surfcamp volunteered und würde auf einer Farm in Spanien das gleiche tun. Ein anderer ging in einer Woche nach Australien für sein Work& travel. Und wieder ein anderer konnte sich nicht entscheiden, ob er vor dem Studium eher ein paar Wochen Seenot retten oder doch lieber mit behinderten Kindern arbeiten wollte, beides ja wahrscheinlich total wertvoll für die Persönlichkeitsentwicklung. Ich ließ die anderen das ausdiskutieren und setzte mich wieder zu den Erwachsenen, wo ich aller drei Minuten wiederholen konnte, wo ich herkam und wie lange ich schon in Marokko war.





Nach drei Tagen hatte ich genug vom Stadt- und Hostel-Leben und fuhr aufs Land. Mustapha, mein Couchsurfer, lebte mit seiner Familie in einem Dorf namens Ain Aicha, ein/zwei Stunden von Fes entfernt. Auf dem Vierseitenhof wohnten außer ihm seine Eltern und der älteste Bruder mit Frau und drei kleinen Kindern. Eine Schwester war außerdem grade zu Besuch aus Fes.

Sonst gab es noch Kühe, Schafe, die abends allein nachhause liefen, zur Wache neuerdings einen Hundewelpen (der aktuell maximal kleine Fremde abschrecken konnte) Hühner, die nachts auf den Bäumen schliefen und zwei Esel. Am ersten Morgen wurde ich einfach mal auf einen davon draufgesetzt und meinem Schicksal überlassen. Der Vierjährige trabte als Anführer der Kolonne sportlich vorne weg, während ich Mühe hatte, nicht vom Weg abzukommen und jeden Augenblick damit rechnete, dem Erdboden entgegen geschleudert zu werden.

Das Eselreiten war aber nicht die einzige Möglichkeit, mich meine Überlebensunfähigkeit spüren zu lassen. Nachmittags ging ich mit den Frauen zum Wäschewaschen an den Fluss, schaffte es dabei mein gesamtes Waschpulver ins Wasser fallen zu lassen und veranlasste die Tante dazu, schließlich meine Wäsche für mich mit zu waschen, anstatt mir länger dabei zuzusehen. Beim Brotbacken am nächsten Tag wurde ich damit getröstet, man könne das Brot, das ich geformt hatte, ja noch dem Hund geben.

Den Tag darauf wollte ich mit den Frauen und Kindern Oliven ernten.
Die Olivenernte wirkte auf mich erstmal harmlos.

Oliven aus den Bäumen schlagen und aufsammeln. Nach ein paar Stunden ‚im Sonnenschein ein paar Oliven sammeln‘(…noch mehr sammeln? … Und NOCH mehr sammeln? – In der prallen Sonne??) war ich allerdings fertig mit der Welt. Der Sechsjährige kletterte währenddessen immer noch fit wie ein Alpha-Hörnchen im Baum herum und rannte dann noch den Heimweg nach Hause. Aber da ich immerhin durchgehalten hatte (mein Couchsurfer hatte mir morgens vorgeschlagen, mich einfach mit einem Buch unter einen Olivenbaum zu setzten und mir das Ganze schlicht anzuschauen) hatte ich mir sogar den Respekt des Opas verdient. Jeden Abend schlüpften wir dann alle kollektiv nach getaner Arbeit in unsere flauschigen Pyjamas (ich hatte einen geliehen bekommen und wurde immer darauf hingewiesen, wenn die Pyjama-Zeit gekommen war) und aßen Tajine oder frittierte Teigteilchen vor dem Schlafengehen.




Taxi, Zug: Mèknes. Dort blieb ich zwei Nächte bei Ahmed, einem bulligen Bäcker mit Herz und nuscheliger Aussprache, und trampte dann nach Rabat.

Wofür ich zwischen Chefchaouen und Fes einen Schuldirektor, drei LKWs und einen Backwarentransporter gebraucht hatte, schaffte ich diesmal mit einer Direktverbindung. Die Jungs aus dem Norden, die mich mitnahmen, machten auf ihrer Strecke erstmal Halt, um eine neue Mall an der Wasserfront von Rabat zu besichtigen, dann entließen sie mich in die Hauptstadt.

Die Wohnung des ersten Couchsurfers, bei dem ich unterkam, war so clean, dass ich als erstes direkt erstmal duschen ging und trotzdem noch das Gefühl hatte, überall Spuren zu hinterlassen. Als er am nächsten Tag plötzlich verreisen musste, zog ich wieder mal zu einem Ahmed. Er hatte mich vorher auf Couchsurfing angeschrieben, wir hatten uns dann aber tatsächlich abends zufällig in dem Club getroffen, in den ich mit dem ersten Couchsurfer gegangen war. Seine Wohnung schien der Ausgleich des Universums dafür zu sein, dass mir die erste Wohnung zu sauber gewesen war. Hier wohnte ein Kiffer, der tagsüber schlief und nachts gerne Leute einlud, damit er sich nicht so weit raus bewegen musste. Dementsprechend sah die Wohnung aus. Mit ein bisschen Zeit und Allzweckreiniger ließ sich aber auch das etwas lösen.
Ahmed war halb Marokkaner, halb Ägypter und in Saudi-Arabien aufgewachsen. Jetzt war er seit ein paar Jahren in Rabat und hatte nach anfänglichem Kulturschock und Sinn-Krise, seine Antworten zunächst ein Jahr lang im Christentum, dann im Nachtleben gesucht, und verdiente aktuell sein Geld mit Krypto- Trading. Dieser Job ließ ihm genug Zeit, um mit mir Fahrräder zu mieten oder sich im Billard von mir besiegen zu lassen. Zumindest in dem Zeitfenster, in dem sich unsere Tageszeiten überschnitten.



