Ein Fall von überdurchschnittlich vielen überdurchschnittlich hohen Häusern zieht in der Regel den ultimativen Vergleich nach sich: New York. Das marokkanische New York kommt mit einigen Hochhäusern daher, Banken, Kolonialbauten, Wohngebieten, alles in weiß. Von Rabat aus habe ich den Zug genommen, direkt in das wirtschaftliche Herz des Landes. Amine, der Couchsurfer, bei dem ich unterkomme, arbeitet den ganzen Tag über als Fahrer für eine Agentur. Also sehen wir uns nur abends. Er scheint es allerdings so sehr zu genießen, in eine belebte Wohnung heimzukehren, in der schon Licht brennt und wo ihn jemand nach seinem Tag fragt, dass er mir nach einem Tag schon anbietet, langfristig bei ihm einzuziehen. Soweit kommt es zwar nicht, aber am Ende bleibe ich ganze anderthalb Wochen.

Genau wie Marrakesch ist Casablanca für sein Nachtleben bekannt. Bars und Clubs und Konzerte.
An meinem dritten Abend in der Stadt fahre ich zum Boulevard an der Wasserfront. Es ist Mittwoch, kurz nach Mitternacht, als ich ankomme und die ersten Clubs, in die ich meine Nase stecke sehen noch ziemlich leer aus. Also laufe ich erstmal eine Runde, merke dabei aber schnell, dass ich mich damit praktisch als Freiwild in die Jagdzone begeben habe. Als mir zwei Mädels entgegenkommen, schließe ich mich ihnen an, aber auch zu dritt bleiben wir nicht unbehelligt. Die Männer, die sich auf dem Bürgersteig oder im Auto an unsere Fersen heften, haben es besonders auf die Ältere der beiden Cousinen abgesehen und lassen sich gefühlt erst nach einer halben Ewigkeit abwimmeln. Die Girls bringen mich in eine Bar mit DJ, die tatsächlich voller und geschlechtermäßig recht ausgeglichen ist. Dort bleiben wir erstmal an unserem Tisch sitzen.
Während ich in Rabat war, war mein Couchsurfer für eine Nacht nach Casablanca gefahren und hatte sich dann bei mir darüber beschwert, dass der Club, in den sein Kumpel ihn geschleppt hatte, voller Prostituierter gewesen war. Mit dieser Geschichte im Kopf beobachte ich das Geschehen um mich herum. Und tatsächlich. Sonst wäre es mir wahrscheinlich nicht aufgefallen, aber da sitzt eine junge Frau alleine und tauscht bereitwillig Nummern aus, als ein Mann sie anspricht. Dahinter ist eine andere in den VIP-Bereich zu zwei Typen eingeladen worden und tanzt nun etwas widerwillig an ihnen herum. Das Ganze hat mein Interesse geweckt und ich würde gerne mehr darüber wissen, wie Sexarbeit in Marokko abläuft. Also spreche ich eine Frau an und frage, ob wir mal zusammen losziehen können.

So verabrede ich mich mit Hanane für Freitagnachmittag in der Nähe des Strandboulevards. Sie sammelt mich ein mit einem schwarzen Dacia und zwei Freunden: Soukaina vorne auf dem Vordersitz und neben mir auf der Rückbank ein Kumpel, der mir scherzhaft als Prinzessin Amira und ansonsten als schwul vorgestellt wird. Der Tag scheint für die drei grade erst begonnen zu haben. Hanane trägt einen Morgenmantel und Pyjamahose, Soukaina schminkt sich im Seitenspiegel. Wir drehen eine Runde mit dem Wagen, dann gehen Prinzessin Amira und ich in einen Liqor-Store und kaufen Wein.

Als wir zurückkommen, hat sich ein Mann Anfang/ Mitte 50 dazugesellt. Sein Outfit ist komplett weiß, seine Statur schlaksig, er hat schlechte Zähne und wirkt auf mich ziemlich shady. Er lädt uns in eine Hotellobby ein, bzw. in den Innenhof mit Pool und Restaurant, wo er seinem Auftreten nach alle zu kennen scheint. Wir trinken Vodka mit Ananassaft und ich esse das Obst auf dem Tisch, während die anderen sich unterhalten. Nach einer Weile sagt der Mann, ich gefiele ihm und ich solle mich neben ihn setzen. Ich sage, ich säße gerne auf diesem Platz und er sagt, er respektiere das. Dann reden die anderen wieder. Plötzlich sagt Hanane, es sei Zeit zu gehen. Ich habe grade noch Zeit, dem Mann mein Feuerzeug wieder abzunehmen, dann ist sie auch schon auf dem Weg zur Tür. Die anderen zwei bleiben sitzen. „Ich vertraue ihm nicht.“, sagt sie im Auto. „Ich glaube, er würde nicht bezahlen.“ Während wir fahren, diskutiert sie mit Soukaina am Telefon und ihr Instinkt trügt nicht. Für Sex nimmt Hanane normalerweise umgerechnet 150 Euro, allerdings sagt sie, gebe es aktuell viel Konkurrenz von Frauen, die es für 100 machen. Für unsere Zeit in der Hotellobby wollen die Mädels zumindest jeweils 10 Euro, wobei der Mann anscheinend nicht mal das zu zahlen in der Lage ist. Jemand käme mit dem Taxi, um ihm Geld zu bringen, heißt es durch das Telefon.
Hanane trifft sich jetzt erstmal mit ihrem Freund, den sie mir noch vorstellt, dann trennen wir uns. „Pass auf dich auf.“, sagt sie noch. „Vertrau niemandem.“

Dazu, am nächsten Abend nochmal auszugehen, kommt es nicht mehr. Sie schreibt mir, sie sei broke und habe gerade nicht mal genug Geld für Sprit.
Also gehe ich Samstagabend mit meinem Couchsurfer raus. Wir gehen zu einer kleinen Bar im nächsten Viertel, in der er selbst solange nicht mehr war, dass er sie zuerst kaum wieder findet. Drinnen tummeln sich mittelalte Männer an runden Glastischen, trinken Bier und rauchen billige Zigaretten. Alle Frauen sind für die Arbeit hier und leisten den Männern Gesellschaft. Alle bis auf eine Kettenraucherin um die 60, die mit ihrer männlichen Begleitung am Nebentisch sitzt und denen wir uns schließlich anschließen. Wie ich erfahre, verdient Naïma ihr Geld mit Glücksspiel und hat bereits in Spanien und in den USA gelebt. Ihr und ihrem Freund folgen wir für die restliche Nacht auf eine kleine Kneipentour durch die Stadt. Vor einer Bar mit Billardtischen lerne ich dann Nada kennen. Leider können wir uns nur in recht gebrochenem Französisch unterhalten, aber ihre Art ist so herzlich, dass wir Nummern austauschen, damit ich auch sie mal begleiten kann.

In Casablanca gehe ich also abends aus, tagsüber streife ich durch die Stadt und mache Fotos. Und schließlich schaue ich auch mal den berüchtigten Film, der nach dieser Stadt benannt ist – um die es, wie sich herausstellt, darin allerdings bestenfalls am Rande geht.

Als ich mich mit Nada dann treffe, muss ich erstmal anderthalb Stunden auf sie warten.

Die Bar ist gemütlich. Auf rot-weiß-karierten Tischdecken stehen Suppenschälchen und Rohkost, es läuft Fußball und Bachata im Hintergrund. Als sie kommt bestellen wir uns eine Flasche Wein und erzählen uns gegenseitig ein wenig von uns. Sie hat einen kleinen Sohn, ist geschieden und wohnt mit ihrer Schwester in der Wohnung über ihrer Mutter. Seit vier Jahren schon arbeitet sie ab und zu als Sexarbeiterin oder Escort, wie es hier meistens genannt wird. In ihrer Familie weiß das außer ihrer Schwester allerdings niemand. Ich frage, ob sie nicht Sorge hat, dass es jemand herausfinden könnte. Aber sie meint, ihre ganze Familie sei zu konservativ, um ihr hier in einer Bar zu begegnen.
Sie stellt sich für ein paar Minuten zu einem der Stammgäste der Bar, redet, kommt wieder. Fühlt sie sich und ihre Arbeit allgemein respektiert? Schon. Aber hat sie auch schlechte Erfahrungen gemacht? Es gebe gute und schlechte Männer, sagt sie, genauso wie gute und schlechte Escorts.
Wir sitzen noch eine Weile und nippen an unserem Rosé. Dann verabschiede ich mich und sie begleitet mich nach draußen.
„Pass bloß auf mit ihr, du kennst sie nicht“, sagt ein sichtlich betrunkener Mann, der plötzlich vor mir steht. Wir stehen noch vor der Bar, während Nada meine inDrive App checkt, über die ich mir ein Taxi bestellen will. Es folgen ein paar Sätze auf Englisch, die Nada nicht versteht, dann ein paar Sätze auf Arabisch, die ich nicht verstehe und dann ein paar sichtlich emotionale Beteuerungen seitens Nada, dass sie und ich zusammen hier sind, was der Mann offensichtlich nicht versteht oder nicht verstehen will. Vielleicht ist er auch nicht mehr aufnahmefähig. Jedenfalls holt er plötzlich aus und verpasst ihr einen Schlag gegen die Stirn. Tumult vor der Tür. Die beiden schreien sich eine Weile lang an, aber verletzt ist sie nicht.
Wir gehen nochmal rein, dann wieder raus, dann kommt mein Taxi und ich fahre nachhause.