Ein paar Kilometer vor dem Ziel blieb der Zug stehen. Ich hatte mich gerade über die Kante des Güterwagons geschwungen, um nach einer nächtlichen halben Ewigkeit endlich pinkeln zu können, da kam ein Pickup herangefahren. Ein Mann stieg aus. Er schien sich an unserem Anblick nicht weiter zu stören (ich hatte zum Glück schnell die Hose wieder hochgezogen) und machte sich ein paar Meter hinter uns an einem Wagon zu schaffen. Dann fuhr der Zug wieder an. Allerdings nur der halbe Zug. Zwei, drei Wagons hinter uns war der Rest abgekoppelt worden. Wie dumm für die anderen Leute, dachte ich noch, die stehen da jetzt mitten in der Wüste. Aber gut für uns, schließlich fuhren wir ja weiter. Nach einer Weile wurde allerdings auch klar wohin. Simon hatte die Karte auf dem Handy aufgerufen und zeigte uns, was sich unserem kleinen blauen Standort annäherte: Wir fuhren in die Mine.
Eine Woche zuvor:
Noch nie hatte ich meinen Pass durch so viele Hände gehen sehen. An dem Grenzkomplex zwischen Marokko und Mauretanien wurde ich von einem Büro ins nächste und wieder zurückgeschickt, um mein Visum zu bekommen. „Nationalität?“, „Und ursprünglich?“, „Zum ersten Mal in Mauretanien?“, „Wohin geht’s jetzt?“, „Und danach?“, „Und danach?“ Nach einer halben Stunde hatte mich aber wahrscheinlich jeder Verantwortliche persönlich befragt und mein Visum wurde eingeklebt und damit besiegelt. Ein Taxi fuhr mich durch sandige flache Landschaft in die Stadt Nouadhibou, einmal über die Zugschienen, hinter denen grade die Sonne unterging.

Ich war am 30. Dezember abends angekommen. Aus Kalender-Sicht kurz vor Schluss. Ad, der rumänisch- mauretanische Couchsurfer, der mich aufgenommen hatte, meinte, seit seiner wilden Jugend feiere er kein Silvester mehr und außerdem würde in der Stadt absolut nichts los sein. Das war mir auch schon in Marokko prophezeit worden, ich hatte aber trotzdem schon nach Mauretanien weiterfahren wollen. Ausgehen war hier unüblich und Alkohol war in der islamischen Republik verboten. Nur Ausländer:innen war es (zu schmerzhaften Preisen) erlaubt zu trinken. Ad hatte durch seine Arbeit im Warenimport viel mit Chines:innen zu tun und kannte deshalb einige chinesische Restaurants und Bars, in die Arbeiter:innen gingen. Für mich klang das wie der perfekte Ort für Silvester 24/25.
Wie sich herausstellte war das allerdings einfacher geplant als getan. Eine Bar nach der anderen, die wir anfuhren, war anscheinend zuvor von der Polizei für heute geschlossen worden. Bei einer sahen wir allerdings zwei Leute an die Tür klopfen, woraufhin sie ihnen geöffnet wurde. Als wir dasselbe taten, wurden wir erst abgewiesen, dann aber doch reingelassen. Als jedoch die Hausherrin kam und bei unserem Anblick eine Tirade wütenden Chinesischs von sich gab, beschlossenen wir auch von selbst wieder zugehen. So viel dazu. Wir drehten noch eine Runde mit dem Auto durch die ausgestorbene Stadt und kauften schließlich in einem senegalischen Restaurant eine 0,5er Dose Heineken für umgerechnet 15€, die ich dann in meiner Hosentasche nach Hause schmuggelte.

Dort setzte Ad mich ab und verschwand für eine Weile. Als er schließlich wieder kam, hatte er eine Tupperdose voll mit Kuchen und Torte für mich dabei. So saß ich also auf der Couch, im Schweigen der Stadt und schaufelte die klebrige Masse glücklich in mich hinein. Und während auch die 15€ langsam in meinem Bauch versickerten, nahm das neue Jahr im neuen Land seinen Lauf.

Nouadhibou, die zweitgrößte Stadt des Landes, liegt 500 km nördlich der Hauptstadt Nouakchott an der Atlantikküste. Das wirtschaftliche Zentrum des Landes verfügt über einen Industriehafen und maßgeblich viel Fischerei. Hier münden außerdem die Gleise des Eisenerz-Zugs, die die Minen im Innland mit der Küste verbinden. Dieser Zug ist nicht nur einer der längsten und schwersten Züge der Welt und Hauptverkehrsmittel auf dieser Strecke (in Abwesenheit einer Straße), sondern auch die Hauptattraktion für off-path Backpacker:innen. Für 8€ kommt man ins Zugabteil, aber der eigentliche Spaß ist das kostenlose Mitfahren in einem der Güterwagons. Richtung Mine im leeren Wagon, auf dem Rückweg auf dem schwarzen Pulver. Neuerdings war das Reisen im offenen Wagon zumindest für Touris offiziell verboten worden, was aber nicht zwingend hieß, dass es nicht mehr gemacht wurde. Auch ich wollte es trotzdem versuchen.
Nachdem Ad hatte verreisen müssen, war ich in ein Hostel umgezogen. Dort lernte ich zwei Deutsche in meinem Alter kennen. Yann und Simon waren zwei zugbegeisterte Fotografie-Studis, die einmal die komplette Strecke mitfahren und eine kleine Reportage über die Lieferkette des Eisenerzes machen wollten. Ich hatte eigentlich erst einen Tag später fahren wollen, aber als sie, nachdem ich all meine Vorbereitungen getroffen hatte, am späten Nachmittag immer noch auf den Zug warteten, stieß ich noch dazu. Eine halbe Stunde später rollte das Biest ein. Wir hockten in einiger Entfernung vom Bahnhof vor den Schienen und mussten nur noch einen passenden Wagen hochklettern. Dann waren wir unterwegs.


Nachts konnte ich wider Erwarten immer wieder mal schlafen. Die Jungs froren ziemlich in ihren Hängematten, aber glücklicherweise hatte ich mir eine dünne Matratze besorgt, die ich auf den Boden legen konnte. Second-Hand hatte ich mir außerdem vorab in der Stadt einen Bettbezug gegen den Wind und Winterkleidung gekauft und diese Kombi schien für mich ausreichend zu sein. Der Zug ruckelte zwar und rummste ab und zu ziemlich stark, aber auch das ließ sich irgendwie aushalten. Wenn wir zwischendurch kurz stehen blieben, konnte man sogar die Sonnenbrille von der Nase nehmen, um die Sterne zu sehen, ohne dass man direkt die Augen voll Sand und Staub hatte. Morgens wurde ich dann geweckt, damit ich vor der Ankunft noch kurz die Landschaft sehen konnte. Die Fahrt war mit 13 Stunden kürzer gewesen als wir erwartet hatten. Das meiste davon waren wir im Dunkeln gefahren.
Ein paar Kilometer vor dem Ziel blieb der Zug stehen. Ich hatte mich gerade über die Kante des Güterwagons geschwungen, um nach einer nächtlichen halben Ewigkeit endlich pinkeln zu können, da kam ein Pickup herangefahren. Ein Mann stieg aus. Er schien sich an unserem Anblick nicht weiter zu stören (ich hatte zum Glück die Hose schnell wieder hochgezogen) und machte sich ein paar Meter hinter uns an einem Wagon zu schaffen. Dann fuhr der Zug wieder an. Allerdings nur der halbe Zug. Zwei, drei Wagons hinter uns war der Rest abgekoppelt worden. Wie dumm für die anderen Leute, dachte ich noch, die stehen da jetzt mitten in der Wüste. Aber gut für uns, schließlich fuhren wir ja weiter. Nach einer Weile wurde allerdings auch klar wohin. Simon hatte die Karte auf dem Handy aufgerufen und zeigte uns was sich unser kleiner blauer Standort annäherte: Wir fuhren in die Mine.


Die aufgeschütteten Berge sah man zuerst. Irgendwann konnten wir dann auch die Förderbänder und Maschinen erkennen. Als wir in die erste Station einfuhren, wussten wir nicht, was uns erwarten würde. Würden wir rausgefischt und der Polizei übergeben werden? Sicher war es eine Sache, trotz Touri-Bann in den offenen Güterwagons mitzufahren, sich dann aber in kritische Infrastruktur und bewachte Industrieanlagen einschmuggeln zulassen, eine ganz andere. Was dann aber passierte, war zunächst: nichts. Das Personal an den Wachtposten winkte uns freundlich zu und der Zug fuhr unbehelligt durch. Wir konnten es kaum fassen. Nicht nur kamen wir so doch noch zu unserer Zugfahrt bei Tageslicht, wir bekamen gleichzeitig auch noch eine exklusive Tour durch die Industrieanlagen – aus erster Reihe.

Der Zug fuhr noch eine Weile durch die Landschaft, dann kam er vor einer zweiten, kleineren Anlage endgültig zum Stehen. Wir kletterten aus unserem Wagon und liefen auf die Häuser zu. Der erste Arbeiter, der uns begegnete, grüßte bloß höflich und wir erkundigten uns, wie wir von hier am besten in die Stadt kämen. Wir wurden in einen Raum gebracht, in dem wir warten sollten, bis mittags der Gewerkschaftsbus käme und uns mitnehmen konnte. Der Arbeiter, der im Raum Pause machte, teilte seinen Tee mit uns und dann wurden wir sogar ein bisschen herumgeführt, in dem Teil, der für Unauthorisierte zugänglich war. Schließlich fuhren wir, umgeben von Warnwesten, zurück Richtung Stadt. Kurz vor der Stadt wurden wir von der Gendarmerie herausgezogen und zur Wache gebracht, um unsere Pässe kontrollieren zu lassen. Anscheinend konnten sie aber nichts Verdächtiges feststellen und so waren wir endgültig auf freiem Fuß.

Wir mieteten zu dritt eine kleine Zweizimmerwohnung. In den nächsten zwei Tagen feuerten wir unsere Nachbarschaft auf dem Bolzplatz an, organisierten für Yann seine erste Fahrstunde und jagten ansonsten einer Genehmigung nach, um den Tagebau sehen zu dürfen. Dafür wurden wir vom ersten Posten der Gendarmerie zum zweiten geschickt und von dort zur Minengesellschaft, wo uns schließlich eine Emailadresse gegeben wurde, an die wir unsere Daten und Anfragen schicken sollten. Am nächsten Morgen wurden wir abgeholt und von dem Zuständigen für Führungen (die waren wohl doch häufiger, als wir gedacht hatten) gegen Trinkgeld durch den Tagebau gefahren. Leider kamen wir nicht so nah ran, wie wir gehofft hatten und meiner Meinung nach konnte der Trip nicht mit unserem ersten Minen-Erlebnis mithalten. Da das aber nun abgehakt war, nahmen wir den nächsten Zug wieder zurück Richtung Küste bis zur Zwischenstation Choum.



Diesmal mussten wir im Personenwagon mitfahren. Der hatte als einziger Wagen schon vor dem Bahnhof gestanden und da uns das Taxi direkt dort abgesetzt hatte, konnten wir nicht mehr ungesehen umkehren. Wir wurden also platziert und mussten ein Ticket kaufen (wobei der Schaffner uns anbot, uns für 80€ (haha) nachträglich noch in einen Güterwagon zu schmuggeln). Sobald wir fuhren, war ich jedoch wieder einmal froh über unser Schicksal. Der junge Mann, der sich zu uns ins Abteil gesellte, war ein gebürtiger Westsaharaer aus den Exil-Camps in Algerien, der mittlerweile in Spanien lebte. Er erzählte uns bereitwillig von seinem Leben und der Geschichte seines Volks. Dann wurden wir in ein Abteil mit einer Mutter und ihren Kindern umgesetzt. Ich freundete mich mit der Besatzung im Abteil nebenan an und verbrachte die restliche Zeit mit der Crew.


In Choum war erstmal Relaxation angesagt. Wir kamen in einem ansonsten leeren Hostel in dem ansonsten recht leeren Dorf unter und ruhten uns erstmal am nächsten Tag aus. Nachdem die Jungs zurück nach Noaudhibou aufgebrochen waren, blieb ich noch eine Nacht in der Unterkunft. Am nächsten Tag scheiterte mein Versuch, Choum zu verlassen an der freitäglichen Taxiknappheit und ich wurde noch für eine Nacht bei einer Familie im Ort aufgenommen.

Dann ging es für mich weiter in die Region Adrar.
